Verdeckte Altersarmut aus Scham und Angst

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Mehr als die Hälfte der armen Alten, die Anspruch auf Grundsicherung hätten, gehen nicht zum Amt. Sie erdulden die Altersarmut aus Scham und Angst vor der Bürokratie. Höchste Zeit, das Antragsverfahren bei Grundsicherung im Alter zu vereinfachen, um Altersarmut entgegen zu wirken.

Lieber frieren und hungern sie, statt zum Amt zu gehen, um Grundsicherung im Alter zu beantragen. Mehr als die Hälfte der Alten, denen Grundsicherung im Alter zusteht, nehmen diese nicht in Anspruch, so das Ergebnis einer aktuelle Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), die vom Forschungsnetzwerk Alterssicherung (FNA) der Deutschen Rentenversicherung Bund gefördert wurde. In Deutschland werde die Nichtinanspruchnahme (non take-uprate) allein bei den SGB II Leistungen auf 43 bis 56 Prozent geschätzt, so das Portal „gegen-hartz.de“.

Altersarmut schwer quantifizierbar

Die Zahlen zu ermitteln, die eher eine grobe Schätzung sind, war alles andere als einfach, denn verdeckte Altersarmut lässt sich nur schwer quantifizieren. Die Experten vom DIW haben hochgerechnet: Mithilfe der Angaben über den tatsächlichen Leistungsbezug ließ sich die Gruppe identifizieren, die zwar einen Anspruch hätte, diesen aber nicht geltend macht. Das DIW kommt auf knapp 62 Prozent oder hochgerechnet etwa 625 000 Privathaushalte, die ihren Anspruch nicht wahrnehmen.

Besonders hoch sei die Quote bei Älteren (über 77 Jahre) oder Verwitweten. Wer einen eher niedrigen Bildungsstand hat, ist eher betroffen als höher Gebildete. Betroffen sind auch die, die wenig Grundsicherung erwarten dürfen, weil sie nicht davon ausgehen, dass sie überhaupt etwas bekommen. „Vielen ist das Verfahren vermutlich zu aufwendig – gerade bei kleinen Beträgen – oder sie wissen gar nicht, dass sie den Rechtsanspruch haben“, vermutet Studienautor Hermann Buslei. Auch die Angst, als „Almosenempfänger“ abgestempelt zu werden, könne eine Rolle spielen.

Scham spielt laut Focus Online eine wichtige Rolle. Daneben spiele auch Unwissenheit eine wichtige Rolle: Viele Senioren kennen die ihnen zustehenden Hilfen gar nicht. „Oft wird an Lebensmitteln oder der Heizung gespart,“ zitiert die „Süddeutsche Zeitung“ ergänzend einen Mitarbeiter der Caritas. Der Druck wächst aber, denn irgendwann ist die Waschmaschine defekt oder ein anderes Haushaltsgerät. Dann sind die Betroffenen aber meist nicht mehr in der Lage, den Verlust noch aufzufangen.

Die Ursachen von Armut sind vielschichtig. Wie Prof. Götz am Beispiel Altersarmut von Frauen in München zeigt, stellt die typische weibliche Erwerbsbiografie nach wie vor ein erhebliches Armutsrisiko dar. Viele Frauen stellen trotz geringer Rente keinen Antrag auf Grundsicherung. Scham, Schuldgefühle, Streben nach Autarkie, aber auch Bürokratie und das fehlende Wissen über die Möglichkeiten, Leistungen (fast) unabhängig vom Einkommen der Angehörigen zu erhalten, halten sie davon ab, einen Antrag zu stellen.

Prof. Dr. Irene Götz vom Institut für Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie an der LMU München

Wer hilft beim Ausfüllen?

Wer hilft? Die Caritas beispielsweise. Der Antrag kann beim örtlichen Sozialamt gestellt werden, aber auch bei der Rentenversicherung. Das vierseitige Formular S2410 kann  bei der Deutschen Rentenversicherung online herunter geladen werden. Trotzdem scheuen immer noch viele davor zurück. Deswegen empfiehlt das DIW eine Aufklärungskampagne. Das Antragsverfahren  ist viel zu bürokratisch. Die aktuelle Regelung ließe sich vereinfachen, meinen die DIW-Experten. Sie sprechen sich ferner dafür aus, die Grundsicherung grundsätzlich nicht nur auf zwölf Monate zu befristen, schließlich ändere sich die Einkommenssituation von Älteren ja nicht jährlich.

Was ist Grundsicherung?

Die Grundsicherung im Alter entspreche, so „Focus Online“ in etwa den Hartz-IV-Regelungen für Geringverdiener. Im Jahr 2018 profitierten dem Magazin zufolge rund 3,6 Millionen Rentner von der staatlichen Hilfe. Die Grundsicherung helfe Personen, die die Altersgrenze erreicht haben und „ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht ausreichend oder überhaupt nicht aus eigenen Kräften und Mitteln sicherstellen können“, wie das zuständige Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) formuliert. Sie gewähre all denen Finanzhilfen, die infolge langjähriger geringer Arbeitseinkommen nur niedrige Rentenzahlungen erhalten. Wer sich die Zahlen anschaut, merkt auch schnell, dass Altersarmut weiblich ist.

Was aufgerechnet wird

Grundsicherung ist für diejenigen gedacht, die bedürftig sind, deswegen wird deren Bedürftigkeit geprüft. So wird laut „Focus Online“

  • bei der Grundsicherung das eigene Einkommen und Vermögen berücksichtigt.
  • Ein sogenannter Unterhaltsrückgriff auf Kinder erfolgt nur, wenn ein Kind mehr als 100.000 Euro zu versteuerndes Jahreseinkommen aufweist.
  • Die Grundsicherung beginnt mit dem ersten Tag des Monats, in dem der Antrag gestellt wird. Wer also beispielsweise am 4. Dezember den Antrag einreicht, profitiert im Fall eines positiven Bescheids ab 1. Dezember.
  • Grundsicherung wird grundsätzlich für zwölf Monate gewährt. Danach ist ein neuer Antrag zu stellen. Rückwirkend erfolgen keine Leistungen.
  • Achtung Wohngeld! Der Gesetzgeber hat klar geregelt: Leistungen der Sozialhilfe nach dem SGB XII wie die Grundsicherung im Alter sind einzustellen, wenn durch den Bezug einer anderen Sozialleistung – etwa Wohngeld – die Hilfebedürftigkeit überwunden werden kann.

Altersarmut in München

Die Stadt München befragt ihre Bürger*innen zum Thema Armut im Alter und erhofft sich dadurch Informationen über Gründe und Ursachen verdeckter Altersarmut. Im Oktober erhalten deshalb ausgewählte Haushalte aus den Stadtbezirken Pasing-Obermenzing und Trudering-Riem Post vom Sozialreferat. Angeschrieben werden Haushalte mit mindestens einer Person im Rentenalter. Bürgermeisterin Verena Dietl bittet in ihrem Brief an alle Empfänger*innen, den beigefügten Fragebogen zur eigenen finanziellen und sozialen Lage auszufüllen und an die Stadt zurückzusenden. Ein vorfrankiertes Rückkuvert liegt bei. Die Befragung ist selbstverständlich freiwillig und anonym.
Bürgermeisterin Verena Dietl: „Ich bitte alle von uns angeschriebenen Münchner*innen dringend, an der Befragung teilzunehmen, auch wenn sehr persönliche Angaben von Ihnen erforderlich sind. Seien Sie versichert, dass alle Ihre Angaben vertraulich und anonym erfolgen und zu keiner Zeit auf Sie persönlich zurückzuführen sind. Mit Ihrer Teilnahme leisten Sie einen wichtigen Beitrag, dass wir als Landeshauptstadt München erfahren, wie viele ältere Menschen in München in Armut leben und ihren Anspruch auf Grundsicherung im Alter nicht einlösen. Mit dem Wissen aus Ihren Angaben wollen wir die Organisation der Sozialleistungen und weiteren Hilfsangebote so aufstellen, dass sie alle Münchner*innen nutzen können.“
Gleichzeitig weist die Stadt darauf hin, dass die nach wie vor verbreitete Sorge, (die erwachsenen) Kinder würden im Falle einer berechtigten Inanspruchnahme von Sozialleistungen ihrer Eltern zur Kasse gebeten, in der Regel unbegründet ist. Unterhaltsverpflichtungen gegenüber den Eltern bestehen nur, wenn Kinder ein Einkommen von mehr als 100.000 Euro jährlich haben. Darüber hinaus gilt für die leistungsberechtigte Person ein Vermögensfreibetrag von 5.000 Euro als Alleinstehende, 10.000 Euro bei Partnern.
Seit Januar 2021 gibt es zudem einen Rentenfreibetrag bei der Grundsicherung im Alter für die gesetzliche Rente. Er steht allen zu, die 33 Jahre mit Grundrentenzeiten nachweisen können. Dazu gehören neben sozialversicherungspflichtigen Beitragsjahren auch Jahre der Kindererziehung oder der Pflege von Angehörigen.
Angeschrieben werden alle der mehr als 2.000 Haushalte mit mindestens einer Person im Rentenalter (aktuell 65 Jahre und neun Monate), die in den Planungsregionen des Sozialreferats „Am Westbad“ im Stadtbezirk 21 Pasing -Obermenzing oder „Messestadt“ im Stadtbezirk 15 Trudering -Riem mit Hauptwohnsitz gemeldet sind. Die Teilnahme ist ebenso online möglich und der Fragebogen ist in mehrere Fremdsprachen übersetzt. Das Sozialreferat hofft auf eine möglichst rege Teilnahme an der Befragung, um damit Rückschlüsse auf das Ausmaß verdeckter Armut im Alter und die Situation betroffener älterer Münchner*innen ziehen und sein Hilfsangebot entsprechend anpassen zu können.
Momentan beziehen in München rund 15.000 Personen Grundsicherung im Alter, weil ihr Alterseinkommen und Vermögen nicht ausreicht, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Das Sozialreferat geht jedoch von einer nicht unerheblichen Dunkelziffer älterer Münchner*innen aus, die trotz Anspruch keine Leistungen der Grundsicherung im Alter beantragen. Das Sozialreferat appelliert deshalb an alle älteren Menschen in München, die in Geldnöten sind, sich an ihr zuständiges Sozialbürgerhaus zu wenden. Nähere Informationen sind unter www.muenchen.de/sbh oder telefonisch unter 233-96833 erhältlich.

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Photo by Christian Langballe on Unsplash

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Helmut Achatz

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