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Zwei Seiten unserer Kriegsenkel-Biografie
Unser Leben ist geprägt von diesem Gefühl, dass uns die Welt offensteht und parallel dazu von dem dumpfen Ahnen, wie schwer es doch für unsere Kriegskinder-Eltern war. Dankbarkeit und Beklommenheit, beides gehört zu unserm Erwachsenwerden dazu, beides prägt uns. Das hat Ingrid Meyer-Legrand erkannt und sensibel in ihrem Buch beschrieben – und mit Fallbeispielen nacherlebbar gemacht.
Wie lassen sich diese beiden Seiten unserer Kriegsenkel-Biografie „in den Blick nehmen“, hat sich Ingrid Meyer-Legrand gefragt. Ein biografischer Verlauf sei nur im Schnittpunkt von individueller und gesellschaftlicher Geschichte zu begreifen. Sie benutzt dafür zwei unterschiedliche methodische Ansätze – das Genogramm und „My Life Storyboard“. Ein Genogramm ähnelt einem Familienstammbaum – und erlaubt eine Diagnose über mindestens drei Generationen hinweg. Damit lasse sich ein schneller Überblick über komplexe Familienstrukturen gewinnen. My Life Storyboard ist der „Prozess einer biografischen Selbstreflexion“. „In der Arbeit mit My Life Storyboard lassen wir explizit die unmittelbare und persönlich erlebt Zeitgeschichte Revue passieren“. Dabei werden biografische Stationen wie Herkunftsfamilie, Schule, Generationenzugehörigkeit, Studium, Berufsausbildung und aktuelle Tätigkeit neu beleuchtet.
Hochachtung vor der eigenen Lebensleistung
Ingrid Meyer-Legrand geht es ums Erzählen, darum, dass die Kriegsenkel zum Erzählen kommen. Dabei hilft das Storyboard mit seinen Skizzen zu den biografischen Stationen.
Dieser Prozess lasse dem Einzelnen seine besonderen Kompetenzen im Umgang mit den Herausforderungen seiner einzigartigen Geschichte erkennen. „Am Ende dieser Arbeit erleben die Personen oftmals eine große Verbundenheit mit dem eigenen Weg und Hochachtung vor der eigenen Lebensleistung“. Die eigene Lebensgeschichte als Prozess zu verstehen und als in einem permanenten Wandel begriffen, das könne so als bereichernd erlebt werden.
Kindheitserinnerungen tauchen auf
Das kann ich nur bestätigen. Mir ging es zumindest so. Beim Lesen des Buchs tauchten viele Situationen aus meiner Kindheit wieder auf – wie aus einem Nebel. Mir wurde klar, warum mein Vater beispielsweise „Gerechtigkeit“ auf seine Fahne geschrieben hatte und es auch lebte, weil er sowohl in seiner Ursprungsfamilie Ungerechtigkeit erlebte wie als Deutsche in der Tschechischen Republik zwischen den beiden Weltkriegen. Ich muss seine Tatkraft und seinen Elan bewundern, sich nicht von Krieg und Vertreibung traumatisieren zu lassen. Das Buch fordert geradezu auf, sich mit seinen Kriegskinder-Eltern zu beschäftigen, um für sich selbst zu entdecken, inwieweit die Schatten der Vergangenheit bis in die Gegenwart reichen.
Werden die Kraft brauchen
Vielleicht ist es etwas hochgestochen, wenn sie schreibt, dass „viele Kriegsenkel gestärkt und eigenständiger aus diesem Reflexionsprozess hervorgegangen sind, mit einem gereiften Verständnis für das, was die vorherigen Generationen ihnen als Bürde einerseits hinterlassen, aber auch welche Ressourcen und Kraftquellen sie ihnen vererbt haben“ – und diese Kraft werden wir Kriegsenkel in den kommenden Jahren dringend brauchen, um mit den Herausforderungen fertig zu werden.
Ingrid Meyer-Legrand ist es in diesem Buch – mit vielen Erfahrungsberichten von Kriegsenkeln – gelungen, das „lange ins Private abgeschobene Leid in die Öffentlichkeit zu holen“. Mich hat es angeregt, über meine eigenen Erfahrungen zu reden, wobei mir einiges deutlich geworden ist, was ich bislang nur ahnte.
Allein deswegen hat sich die Lektüre gelohnt – und sie dürfte sich für viele meiner Generation lohnen.
Zu mir
Ich bin Jahrgang 1954, meine Eltern, meine Schwestern und mein Großvater wurde nach dem Krieg aus Böhmen vertrieben, kamen im Viehwaggon nach Aufkirch bei Kaufbeuren – mein Vater baute im Jahr meiner Geburt ein Haus in Schongau, wo ich aufwuchs.
Das Buch
„Die Kraft der Kriegsenkel“ von Ingrid Meyer-Legrand. Erschienen 2016 im Europa Verlag, München.
250 Seiten, Preis: 18,99 Euro
ISBN-10: 3958900089
ISBN-13: 978-3958900080
„Kriegsenkel – wie wir den Krieg bis heute spüren“ – phoenix Runde vom 07.05.2015
Kriegsenkel-Verein
2010 entstand der gemeinnützige Verein Kriegsenkel e. V. in der Akademie Sandkrughof in Schnakenbek/Elbe. Sein Ziel ist es, diesem generationsspezifischen Thema einen sichtbaren Platz im gesellschaftlichen Diskurs zu geben. Er ist Anlaufstelle für Betroffene und am Thema Interessierte, er bündelt Informationen, ermöglicht Austausch und stößt Kooperationen auf nationaler und internationaler Ebene an.
Kriegsenkel-Gruppen
Kriegskinder erinnern sich – eine Doku von 3Sat Veröffentlicht am 02.05.2015
https://www.youtube.com/watch?v=bUkuBIaytU8
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15 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Toller Artikel! Mit diesem Thema beschäftige ich mich schon seit einiger Zeit, denn es betrifft nicht nur die Kriegsenkel selber, sondern auch die nachfolgenden Generationen (ich bin Jahrgang 1985). Und zwar nicht nur am Rande. Für mich und meine eigene, ganz persönliche Geschichte ist dieses Thema ganz elementar. Deshalb freue ich mich, wenn es nach und nach in den öffentlichen Fokus gerät.
Das Buch von Ingrid Meyer-Legrand kannte ich noch nicht, werde es mir nun aber definitiv zulegen.
Liebe Grüße, Friede
Hallo Helmut, habe Deine Rezension ja schon erwartet. Und genau wie Du und Maria habe auch ich eine Rezension zum Buch geschrieben, ausgerichtet auf die Zielgruppe 50plus.
http://www.lebensdomizile.com/de/wissenswertes-fuer-verbraucher/literatur.html?showall=&start=1
Liebe Grüße
Petra
Lebensdomizile weltweit
Lieber Helmut,
danke für diesen sehr offenen Beitrag! Ich denke, dass dieser Reflexionsprozess für uns alle nicht ganz unwichtig ist. Und freue mich darüber und darauf, wenn wir Kriegsenkel unsere Erfahrungen austauschen – und von diesem Austausch vielleicht sogar profitieren können…
Denn das ist ein viel weiteres Feld, als ich bisher angenommen habe…. Das bestätigt Friede hier ebenso wie das meine Facebook-Freunde schon getan haben: Wo für mich die Kriegsenkel bisher zeitlich im Bereich der heute über 50-Jährigen angesiedelt waren, habe ich mittlerweile gelernt, dass diese Erfahrungen noch für bis zu in den 1980ern Geborene eine wichtige Rolle spielen. Was sich mit Meyer-Legrands Definition deckt, die von den Jahrgängen 1950 bis 1980 spricht – wir sind alle Kriegsenkel.
Noch viel wichtiger finde ich, dass dieser Blick zurück uns einerseits als gesellschaftliche Gruppe eint (und in meiner Sicht wirkllich auch „stärkt“) andererseits der Weg über unsere Kriegskind-Eltern, deren Erfahrungen und unseren Umgang damit bis heute ziemlich viele nützliche (wenngleich oft genug schmerzlich gelernte) Eigenschaften zutage gefördert hat. Wie du auch schreibst, haben wir eine Ahnung davon, wie Freiheit aussehen kann, haben gelernt, welche Rolle Empathie oder die Fähigkeit zur Resilienz spielen können. Vor allem aber haben wir eine Ahnung davon mitbekommen, dass der heute meist vorherrschende Blick auf Lebensleistungen sich nicht nur in der Bewertung von Geld, Erfolg und Karriere erschöpfen muss… Dass man diesen Blick ruhig mal auch auf andere Dinge richten sollte/könnte. Dinge, die du auch mit Blick auf deinen Vater beschreibst: das Überleben, das Aufbauen, Neuorientierung, der Einsatz gegen Ungerechtigkeiten, für Freiheit etc. Dinge, die heute leider gern mal belächelt werden. Und uns dennoch – ziemlich positiv, wie ich finde – geprägt haben. Dazu gehört auch, dass viele von uns aus der eigenen Famillien Flüchtlingsschicksale, mit allen wirtschaftlichen wie emotionalen Konsequenzen bestens kennen… Ziemlich vereinfacht gesagt, hat uns dieser Prozess in Kontakt mit Werten gebracht, mit Dingen, die es zu verteidigen gelten könnte/sollte… Weshalb ich denke, dass wir gesamtgesellschaftlich gesehen, eine ziemlich wichtige Gruppe darstellen. Aber wem sage ich das? Das weisst du ja. Wie dein gesamter Blog beweist! Danke dafür!
Mit herzlichem Gruß
Maria
Danke für deinen einfühlenden Kommentar
Liebe Maria, liebe Friede, liebe Petra,
danke für eure Kommentare. Ehrlich gesagt, ich habe das Buch einige Wochen mit mir herum getragen. Zuerst dachte ich, ich lese es in einem Rutsch, dann habe ich mir Post-its reingeklebt und viele Stellen markiert. Es hat mich inspiriert, auf meine Zeit als Junge zurück zu blicken. Mir wurde dabei einiges klar, was bisher eher nur eine Ahnung war. Insofern finde ich das Buch bereichernd – und empfehlenswert.
[…] Helmut Achatz beschreibt in seinem Blog Vorunruhestand sehr offen seinen Blick auf die eigene Jugend und den Vater, Fazit: „Ingrid Meyer-Legrand ist es in diesem Buch […] gelungen, das ‚lange ins Private abgeschobene Leid in die Öffentlichkeit zu holen‘. Mich hat es angeregt, über meine eigenen Erfahrungen zu reden, wobei mir einiges deutlich geworden ist, was ich bislang nur ahnte.“ […]
Hallo Helmut, ich freue mich sehr, dass Du meine Buchbesprechung gefunden und gleich verlinkt hast. Jetzt gibt es schon eine ordentliche Sammlung der Erkenntnisse. Ich habe mich gesträumt, ein Kriegsenkel zu sein. Gemäß Bode beschreibt sie die 50er Jahrgänge als Nachkriegskinder, wenn ich es dann richtig verstanden habe.
Was für mich jetzt noch mal tiefer gerutscht ist, weil Du es hier erwähnst: die Freiheit die wir hatten … mit allen Vor- und Nachteilen. Aber es ist ein wichtiger Wert für mich.
Danke für die vielen interessanten Links und Informationen.
Vor allem dass es ein Treffen gibt in Schmitten. Das schaue ich mir näher an.
Alles Liebe und Gute. Petra
Hallo Petra,
es war wohl Zeit für dieses Buch. Wir sind Kriegsenkel und Babyboomer gleichzeitig – mit dem Päckchen, das wir tragen, aber auch mit den Freiheiten die wir damals in der Kindheit hatten.
liebe Grüße
Helmut
[…] der 60er-Jahre geboren wurden, sind genau diese Kriegsenkel, die Ingrid Meyer-Legrand in ihrem Buch „Die Kraft der Kriegsenkel“ zu Wort kommen lässt. Es regt uns an, darüber nachzudenken, wie wir geworden sind was wir sind – und das ist mehr, […]
[…] http://vorunruhestand.de/2017/01/kriegsenkel-babyboomer-generation-x-wer-sind-wir-und-was-steckt-in-… […]
[…] Schick reiht sich ein in den Kreis der Autoren, die sich wissenschaftlich mit dem Thema auseinandersetzen. Dazu gehören beispielsweise Sabine Bode, Hilke Lorenz, Luise Reddemann, Ingrid Müller-Münch, Anne-Ev Ustorf, Bettina Alberti, Udo Baer und seine Frau Ursula Frick-Baer sowie Matthias Lohre, ferner Dr. Jürgen Müller-Hohagen und Hartmut Radebold. Nicht zu vergessen Ingrid Meyer-Legrand und ihr Buch „Die Kraft der Kriegsenkel“. […]
[…] hat sich ebenfalls mit den Kriegsenkel beschäftigt und ein Buch darüber beschrieben: „Die Kraft der Kriegsenkel“. Arie Ben Schick beschreibt, wie seine Eltern die Erfahrungen im Krieg seelisch verarbeitet haben […]
[…] Babyboomer von damals sind mittlerweile im Rentenalter oder kurz davor. Der Babys des geburtenstärksten […]
[…] der wachsenden Zahl der Rentner anhalten. „Denn je älter die stark besetzten Jahrgänge der Babyboomer werden, desto mehr verschieben sich auch unter den Wanderern die Anteile zugunsten höherer […]
[…] Um Druck aus dem Rentensystem zu nehmen und dieses auf den bevorstehenden Renteneintritt der Babyboomer-Generation vorzubereiten, wäre ein stärkerer Anstieg des tatsächlichen Renteneintrittsalters […]