Wenn Boomerinnen auspacken

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Boomerinnen haben die Welt verändert und blicken mit Stolz, Erstaunen und Wehmut zurück. Mit der großen Freiheit ist es angesichts klammer Finanzen bei einigen nicht weit her.

Neben den „alten weißen Männern“ gibt es als weibliches Pendant die alten „Feministinnen“. Susanne Matthiesen, Jahrgang 1963 und selbst Boomerin, gelingt in ihrem Buch „lass uns noch mal los“ ein buntes, witzig-schrilles Bild der Frauen zu skizzieren, die in den Achtzigern „zwischen brennenden Barrikaden in Kreuzberg“ für den Feminismus kämpften – „anarchisch, frauenbewegt“. Was ist in den vergangenen vierzig Jahren aus ihnen geworden?

Boomerinnen im Ruhestand

„Ruhestand“? Von wegen. Wer glaubt, dass Boomerinnen ruhiger treten, sieht sich getäuscht, zumindest, wenn sie – oder er – das Buch „lass uns noch mal los“ von Susanne Matthiessen lesen. Das fängt bereits mit dem Titel an, der Aufbruch impliziert. Wir anderen sollten uns abgewöhnen zu erwarten, dass die weibliche 60plus-Generation, sprich die baby boomers „langsam kürzertreten und die Früchte der Arbeit ernten“, wie „Welt“-Autor Frank Lorentz ausdrückt („Ich fürchte, wir werden noch blöd aus der Wäsche gucken“).

In ihrem Buch geht es um „Susanne“, die aus der norddeutschen Provinz in das umtriebige Berlin, genauer gesagt, nach Kreuzberg zieht und wird über Umwege Miteigentümerin eines Wohnhauses für Frauen mit 38 Einheiten, was sich im Laufe des Buchs als leicht übertrieben herausstellt, denn so nach und nach taucht ein Mann nach dem anderen in dem Frauen-Wohnhaus auf.

Leben im Frauen-Wohnhaus

Damit beginnen die Komplikationen, aber nicht nur damit. Denn, Susanne verliert ihren Job und damit ihr Einkommen und ihren Unterhalt, weswegen sie ihr Wohnung untervermieten muss – ausgerechnet an ein Paar, wo sich der männliche Part durch Macho-Allüren hervortut.

Susanne erzählt vom Leben im Frauen-Wohnhaus „BURG“, vom dysfunktionalen Berlin, von ihrer Mutter auf Sylt, die ab und an zu Besuch kommt. Köstlich die kleinen Geschichten von einem herrenlosen vergammelten Sofa, das jemand einfach abgestellt hat – und das eine der Bewohnerinnen stört. Die überforderte Stadtverwaltung will sich nicht drum kümmern, deswegen überlegen sich Susanne und ihre Mitbewohnerin Dorothea einen Trick: Sie fackeln das Möbelstück ab, die Feuerwehr löscht den Brand, die Stadtreinigung holt die verkohlten Trümmer ab.

38 Einheiten, das nur Frauen vorbehalten sein darf. Jede und jeder kann sich vorstellen, dass das nicht bis in alle Ewigkeit gut gehen kann. Matthiessen schreibt sich in einem Parforceritt durch die Veränderungen, die von innen und von außen auf die Bewohnerinnen einstürmen. Das schließt auch zwei Tote mit ein: eine Trans-Frau, die eines unnatürlichen Todes stirbt und die Matriarchin des Frauen-Wohnhauses, die auf natürliche Weise stirbt – ausreichend Zutaten für eine wilde Mischung mit Irrungen und Verwirrungen.

Wann geht’s los?

Irgendwie wartet die Leserin – oder der Leser – darauf, dass sich der Titelanspruch erfüllt und das feministische Wohnprojekt noch mal loslegt. Loslegt wohin? Zur Abschaffung des Patriarchats, Geschlechtergerechtigkeit oder was auch immer. Susanne braucht da ein bisschen Anlauf – zwei Tote und die Übernahme des Vorsitzes in der Hausrunde, den ihr die bisherige Matriarchin Ingetraut auf dem Sterbebett mehr oder weniger aufdrängt mit den Worten „Ihr müsst noch mal los“.

Und was heißt dieses „Ihr müsst noch mal los“? Keine Demos, denn das bringt im umtriebigen Berlin nichts, wo jeden Tag Dutzende Demos stattfinden. Was dann? Die Vollversammlung der feministischen Wohngemeinschaft brainstormt und kreiert die Parole „Weg mit dem Dreck“. Als Ziel des Kommandos „Inge Traut“ sollte sein, „die alten Machtstrukturen, an die sich die meisten Männer immer noch klammern“, endgültig „auf den Müllhaufen der Geschichte“ zu werfen. Die Grundidee ist eine „Entrümpelungsaktion“ der besonderen Art. Wie das aussehen sollte? Die Aktivistinnen aus dem Frauen-Wohnhaus wollten das Gerümpel – faulige Matratzen, ausgediente Kühlschränke, angeschlagene Waschbecken – in Kreuzberg nutzen, um darauf Sprüche wie „Das Zuhause kann die Hölle sein. 240 000 Frauen haben sie letztes Jahr erlebt“ oder „Zwei Drittel aller Vergewaltigungen finden zu Hause statt“ zu platzieren, um so die Öffentlichkeit aufzurütteln. Mit einem roten Schlafsofa fing es an. Zweimal pro Woche „erschufen“ sie derartig Installationen. Das fiel mehr auf als eine Demo. Die „taz“ berichtete darüber, „ARTE“, selbst den „Tagesthemen“ war ihre Aktien ein Beitrag wert. Die öffentliche Debatte nahm Fahrt auf.

Ende gut, alles gut?

Am Ende schafft es Susanne sogar noch, ihre Leiche, die ukrainische Trans-Frau Irina zu entsorgen. Ende gut, alles gut? Ja, so ein bisschen. Susanne darf wieder aus dem Keller in eines der oberen Stockwerke ziehen und sie bekommt einen Auftrag, ein Buch über die „BURG“ zu schreiben, sprich über „dieses Haus, in dem nur Frauen wohnen, die ihr Ding machen, die alle schon total alt sind“.

Ein Buch rasant, rebellisch, frauenbewegt, komisch und anarchisch-chaotisch.

susanne matthiessen

„lass uns noch mal los“ von Susanne Matthiessen
erschienen Februar 2024
Ullstein Buchverlage, Berlin
336 Seiten
Preis 23,99 Euro, Kindle 19,99 Euro

ISBN 978-3-550-20267-4

Bilder: shutterstock | Ullstein Verlage

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2 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • ClaudiaBerlin (Digital Diary)
    9. März 2024 10:44

    Eine Geschichte, die zwiespältige Gefühle auslöst. Einerseits klingt alles recht heiter, aber: „Am Ende schafft es Susanne sogar noch, ihre Leiche, die ukrainische Trans-Frau Irina zu entsorgen. “
    Wie die wohl gestorben ist, dass die „Entsorgung“ als Happy End daher kommen kann?

    Antworten
  • Helmut Achatz
    9. März 2024 10:50

    Das bleibt im Buch ungeklärt. So ganz happy ist die Entsorgung allerdings nicht und so ganz unbeschwert ist die Story der alternden Babyboomerin auch nicht, so ganz ohne Kinder.

    Antworten

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Helmut Achatz

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